… mit unserer Wahrnehmung
Es gibt keine Realität. Also nicht EINE Realität sondern Milliarden von Realitäten. Eine Fliege hat eine andere Realität, als eine US amerikanische Hausfrau, eine Katze oder ein Falkner in der Mongolei.
Aber auch ich und mein Freund haben verschiedene Realitäten, ich und meine Freundinnen. Jeder und jede hat seine eigenen Realität.
Wir haben unterschiedliche Dinge in der Kindheit erlebt, wir haben andere Ziele im Leben, wir denken unterschiedlich über die Welt und wir bewerten Dinge anders.
Gut, eine Fliege und eine Katze sehen die Dinge sogar anders als wir. Sie haben nicht das Wort “Stuhl”, aber sie können auch beide drauf sitzen.
Wenn wir jetzt mal davon ausgehen, dass wir alle (also wir Menschen aus einem ähnlichen Kulturkreis) wissen, was ein Stuhl ist, dann ist ein Stuhl eben ein Stuhl – die einen finden ihn schön, die anderen nicht. Ich kann das regelmäßig am Sperrmüll-Tag erleben, wenn ich am liebsten die ganzen alten Möbel aufsammeln würde, die andere wegschmeißen.
Also n Stuhl ist ein Stuhl, ein Tisch ist ein Tisch, ein Bett ist ein Bett – für Dich und mich und meinen Nachbarn. Aber wenn das Leben nur aus Stühlen bestehen würde, wäre es nicht so komplex. Wie zum Beispiel bei zwischenmenschlichen Beziehungen.
Diane Hielscher
Wie unser Gehirn das macht, also “Dinge wahrnehmen”, das wissen wir gar nicht, wir merken es nicht, es passiert einfach. Unsere Sinnesorgane nehmen die Situation auf, unser Gehirn interpretiert sie und konstruiert daraus dann eine Wahrnehmung, dessen was ist. Also dessen, was für uns ist. Und das kann nie alles sein, der Arbeitsspeicher in unserem Gehirn ist zum Beispiel gar nicht groß genug, um alles wahrzunehmen. Wir können nur vier bis sieben verschiedene Informationen gleichzeitig aufnehmen. Also zum Beispiel: Die Sonne scheint, hier riechts nach Hühnchen mit Pommes, da kommt ein Hund von rechts, ein Baby schreit, da steht n rotes Auto. Dann ist irgendwann schluß, der Speicher ist voll.
Das heißt, das meiste einer Situation nehmen wir gar nicht wahr. Dieses Input-Gewitter in unserem Gehirn wird am Ende zu einem Bewusstseinsstrom zusammengefügt. Manche Informationen daraus können wir analysieren und kritisch hinterfragen, wir sind ja Menschen, das ist unser ganz großes Feature.
Aber dann gibts ja noch das Unterbewusstsein, das auch noch Dinge wahrgenommen hat und die Vergangenheit nimmt, um die aktuelle Situation zu bewerten. Manchmal reagieren wir also aggressiv, ängstlich oder verunsichert, wo jemand anderes völlig anders reagiert hätte.
Der Tiefenpsychologe Alfred Adler hat das “private Logik” genannt, also eine Logik, die wir uns selbst erschaffen haben, die wirklich nur für uns gilt. Er sprach von einer Leitidee, einem Leitbild oder einer Fiktion. Also ist unsere private Logik etwas, das ausschließlich in unserer Vorstellung existiert, etwas, das wir uns erdenken ohne dass es einen Bezug zur Wirklichkeit hat.
Wenn ich zum Beispiel sage: ich wollte heute morgen die Geschirrspülmaschine anmachen, aber die Geschirrspültabs waren alle. Dann könnte mein Freund das jetzt als Angriff verstehen und denken, ich würde ihm einen Vorwurf machen und will damit sagen, er hätte Geschirrspültabs kaufen sollen.
Er denkt das dann, weil ihm auf der Arbeit heute sowieso schon den ganzen Tag alle Vorwürfe gemacht haben, weil er Hunger hat, weil er müde ist oder weil er vielleicht von seinen Eltern als Kind immer Vorwürfe bekommen hat, weil er ständig Sachen vergessen hat.
Ich dagegen habe diese Geschichte vielleicht nur erzählt, um zu erklären, warum wir keine sauberen Gabeln mehr haben. Weil ich wiederum ständig Angst habe, was falsch zu machen und mich direkt entschuldigen wollte. Weiß der Teufel, was bei mir heute schon alles schief gelaufen ist.
Und Bumms haben wir einen Streit, weil wir nicht auf dem Schirm haben, dass wir die Welt unterschiedlich wahrnehmen. Dass jeder seine private Logik hat.
Oder: Nehmen wir mal Paul und Anna (die Namen sind kurz, da muß ich nicht so viel tippen). Die beiden sind jung und verliebt. Sie halten Händchen, essen Eis und erfreuen sich gegenseitig an ihren Genitalien. Irgendwann trennt sich Anna von Paul. Was Paul jetzt macht, ist Neuroplastizität und wird den weiteren Verlauf seines Lebens mitbestimmen. Paul hat Liebeskummer, er weint, betrinkt sich, ist wütend, enttäuscht und traurig – wir alle waren mal Paul.
Wie er die Situation jetzt bewertet, hängt davon ab, wie er sein Gehirn bis hierhin benutzt hat. Welche Überzeugungen hat er, welche Haltungen, Einstellungen und Ideale?
Angenommen Paul hat ein großes Selbstbewusstsein, dann könnte eine Schlussfolgerung aus der Trennung sein: “Mädchen sind einfach doof, wenn man sich mit denen einlässt, wird man von ihnen verletzt. Mir passiert das nicht nochmal!” Wenn sich dieser Gedanke in seinem Weltbild schlüssig anfühlt und sich mit seinen Haltungen deckt, werden entsprechende Synapsen in seinem Gehirn entstehen. Eine neue Erfahrung, befeuert mit starken Gefühlen, ist gemacht, eine neue Autobahn im Gehirn ist angelegt. Und diese neue Erfahrung wird zu einer weiteren Einstellung, nach der er sein Leben gestaltet.
Seine Wahrnehmung ist von jetzt an darauf gerichtet, Beweise für seine Einstellung zu finden. Egal was ein Mädchen tut, sie tut es, aus seiner Sicht, weil sie eben einfach doof ist. (Dabei haben all die Mädchen ja ihre eigenen Neuronen und Synapsen, die auch nicht vom Himmel gefallen sind.)
Paul trägt seine Einstellung in den Club, ins Kino, auf Partys. Überall wo nette Mädchen sind, seine Einstellung ist schon da. Gibt ihm ein Mädchen einen Korb: wusste ich’s doch! Will sie ihn nicht küssen: weil sie doof ist! Und selbst wenn sich etwas Wunderbares anbahnt: da kann doch was nicht stimmen, ich muß aufpassen, Mädchen verletzen einen nämlich immer!
Dementsprechend verhält sich Paul und sorgt selbst dafür, dass das passiert, wovor er Angst hat. Seine Autobahn im Gehirn wird zur self fulfilling prophecy, zur sich selbsterfüllenden Prophezeiung.
Wir können aber auch annehmen, dass Paul ein instabiles Selbstbewusstsein hat, dann geht die Geschichte ein bisschen anders aus – allerdings nicht unbedingt besser. Paul könnte zu dem Schluss kommen, dass Anna einfach die wundervollste Frau der Welt ist und er so ein zauberhaftes Wesen nicht verdient hat. Dass er es schlichtweg nicht wert ist, mit einem solchen Engel zusammen zu sein. Paul baut die ich-bin-wertlos-Autobahn in seinem Hirn aus. Ab jetzt werden Beweise für diese gedankliche Konstruktion gesucht: ich komme oft zu spät, ich kriege nichts gebacken, keine Frau will mich, ich bin ein Verlierer.
I`m a loser Baby, so why don´t you kill me
Beck
Alles, was von jetzt an schief geht, wird Paul zur Beweisführung nutzen, denn sein Fokus liegt jetzt auf seiner Wertlosigkeit. All die kleinen Siege, die schönen Momente und die Erfolge des Alltags, werden aus seinem Blickfeld verschwinden, er wird sie einfach nicht mehr wahrnehmen. Anna hat ihn verlassen – zu recht, weil er ja sowieso zu nichts zu gebrauchen ist. Und jeder einzelne Beweis, der ja de facto keiner ist, wird dafür sorgen, dass Paul die ich-bin-wertlos-Autobahn weiter ausbaut. Deswegen lernen wir Vokabeln, Gedichte und Formeln auswendig, damit wir die synaptische Kommunikation zwischen den Neuronen stärken. Je öfter wir üben, desto besser können wir uns den Kram merken.
Londoner Taxifahrer, die 25.000 Straßen auswendig können müssen, mussten büffeln, um ihr Gehirn zu verändern, Paul nicht.
Die emotionalen Zentren in seinem Gehirn haben so viele neuroplastische Botenstoffe freigesetzt, als Anna ging, für ihn ist die Sache klar.
Sein Gehirn, seine Wahrnehmung und seine neue Lebenseinstellung “lernen” jetzt für ihn und sorgen dafür, dass sein Leben in eine bestimmte Richtung geht. Paul hätte genauso gut denken können: wir sind sehr jung, wahrscheinlich werde ich noch viele Trennungen erleben. Oder: wir haben sowieso nicht so richtig zusammen gepasst. Oder: Toll, mit jeder Beziehung und Trennung lerne ich mehr über die menschliche Existenz. Oder: Vielleicht bin ich schwul!
Er hätte zu jedem Zeitpunkt eine völlig andere private Logik erschaffen können, andere Neuronen hätten zusammen gefeuert und hätten andere Synapsen gebildet.
Oft sitzen wir aber mit unserem selbst gebastelten Gehirn schon tief in der Bredouille und wissen gar nicht, was genau unser Problem eigentlich ist.
Dann sind es immer die Anderen, die die Arschlöcher und die dummen Zicken sind. Dabei haben wir unser Leben lang dafür gesorgt, dass wir jetzt so denken, wie wir denken, dass wir diese Einstellungen und Vorstellungen haben und versuchen, die Welt um uns danach zu formen.
Wenn wir das wissen und fühlen, können wir unser Leben komplett neu denken und fühlen. Mir hat diese Erkenntnis sehr weiter geholfen. Wir können jedes Mal einen Schritt zurück treten aus unserem Leben und gucken: warum denke und fühle ich das? Was genau in mir sorgt jetzt für genau diese Reaktion? Und wäre es nicht viel besser, jetzt etwas Anderes zu denken und zu fühlen? Wie wir das machen können, werden wir in weiteren Artikeln hier noch besprechen.
Natürlich klappt das nicht immer und es ist auch nicht einfach. Aber das Wissen um Neuroplastizität gibt uns ein Gefühl der Kontrolle über unsere Leben zurück, das wir oft verlieren, zum Beispiel nach einer Trennung. Gerade wenn uns ein geliebter Mensch verlassen hat, fühlen wir uns hilflos und als Opfer. Aber vielleicht ist alles ganz anders. Natürlich tut es weh, manchmal so sehr, dass wir brechen müssen, Panikattaken bekommen oder in eine Depression stürzen. Schmerz gehört aber dazu und wenn wir ihn mal so richtig fühlen, dann können wir danach wieder entspannt weiter leben.
Wir wollen allerdings meistens Schmerz und Trauer vermeiden und unterdrücken, das macht dann Neurodermitis und Bandscheibenvorfälle. Was nach dem Schmerz passiert, bestimmen wir.
“Pain is inevitable, suffering is optional.”
“Schmerz ist unvermeidbar, Leiden ist optional.” hat der Bestsellerautor Haruki Murakami nach einem alten Buddhistischen Sprichwort gesagt.
Manche Dinge im Leben tun einfach scheiße weh, aber ob wir Jahre später noch darunter leiden, ist unsere Wahl – unter anderem dank Neuroplastizität. Mehr dazu lest Ihr in diesem Beitrag.
Hier noch mehr Inspiration. Ich bin großer Fan von Tara Swart und Jen Sincero (Frau Sincero ist auch noch wahnsinnig witzig.)
Unsere Realität ist nicht das einzige in der wir Dinge sehen und erschaffen können. Dafür brauchen wir besonders Kreativität, mehr dazu lest Ihr hier.